FAQ

Demokratische Praxis in der CSR

1918 – 1938

Nationalversammlung, revolutionäre: Der 1918 ohne Wahlen einberufenen “revolutionären Nationalversammlung” gehörten nur Tschechen und wenige Slowaken an. Die Sudetendeutschen waren von der Mitarbeit an der neuen Staatsverfassung und den etwa 300, für sie oft nachteiligen ersten Gesetzen des neuen Staates ausgeschlossen. Sie wurden behandelt als gehörten sie nicht zum Demos, was auch der erste Satz der Verfassung andeutete: “Wir, die tschechoslowakische Nation....”   Wirkliche Demokraten zeichnet jedoch aus, daß sie für die ungeschmälerten Rechte aller Bevölkerungsteile eintreten.

Wahlkreisgeometrie: Zuschnitt der Wahlkreise ging in der Regel zu Lasten der Sudetendeutschen, die für ein Mandat im Durchschnitt fast 20 Prozent mehr Stimmen als die Tschechen benötigten (47.716 gegen 39.957). Noch schlechter gestellt waren die Magyaren, bei denen erst auf 109.847 Wähler ein Parlamentsitz entfiel (Pleyer, S.155). Besonders begünstigt war in Prag der Wahlkreis A, in dem nur 22.100 Wähler wohnten. Praktische Folgen hatte das bei der Wahl vom 19. Mai 1935, als die SdP Henleins 73.000 Stimmen mehr auf sich vereinigen konnte als die stimmstärkste tschechoslowakische Partei (Agrarier) und dennoch einen Sitz weniger als diese zugesprochen erhielt. Völlig unabhängig vom Wahlergebnis erhielten die Legionäre in der ersten Legislaturperiode vier Parlamentssitze, was der weiteren Absicherung tschechischer Interessen diente.

Stimmauszählung: Seit 1925 wurde bei der Auszählung der dritten Stimmen zwischen Stimmen des Staatsvolkes und solchen der Minderheiten zu Lasten letzterer unterschieden (Lukasch, S. 235).

Soldatenwahlrecht: Soldaten hatten in ihren jeweiligen Garnisonsorten volles Wahlrecht. Durch vorübergehende Verlegung tschechischer Regimenter (“Wahlbataillone”) in Orte mit knapper deutscher Mehrheit konnte diese zu Fall gebracht werden (HASSINGER, S. 169 ff.). Erst nach zähen Verhandlungen gelang es den deutschen Parteien in der zweiten Wahlperiode, diesen Mißstand abzustellen (Lukasch, S.244).

Wahlperiode: Die Verfassung der CSR gestattet dem Wahlvolk einen Urnengang nur alle sechs Jahre.

Revers-Demokratie: Die tschechischen Abgeordneten mußten bei Annahme ihres Mandats für den Fall der Unbotmäßigkeit eine Blanko-Rücktrittserklärung unterschreiben, die bei Unbotmäßigkeit von den Parteiführern präsentiert wurde (Sander 1935, mit Text des Revers, S. 110; Lipscher, S. 113; Menzel, S. 64;). Abhilfe schuf auch das Wahlprüfungsgericht nicht, denn dessen Besetzung gehörte wohlweislich auch zu den Befugnissen des Parlaments (Gesetz vom 29.2.1920, Sander 1935, S. 97 ff.).

Petka: Die eigentlichen politischen Entscheidungen fielen in einem Petka genannten Koalitionsausschuß, der in der Verfassung nicht vorgesehen war, aber dank der o.g. “Reversdemokratie” auch für das Parlament verbindliche Beschlüsse fassen konnte.

Ermächtigungsgesetz: Das (verfassungswidrige) Ermächtigungsgesetz vom 9.6.1933 wurde mehrmals, zuletzt im Jahre 1936, verlängert und führte zu einer Art Präsidialdiktatur.

Parteienauflösungsgesetz: Das Parteienauflösungsgesetz vom 25.10.1933 wurde mehrmals, zuletzt 1936, verlängert und schloß den ordentlichen Rechtsweg aus (Sander 1936, S. 188). Damit ordnete sich die CSR in die Reihe der autoritären Staaten ein.

Staatsverteidigungsgesetz: Das Staatsverteidigungsgesetz vom 13. Mai 1936 betraf 55 grenznahe Bezirke und damit 86 % der Sudetendeutschen. Diese konnten auf dem Verwaltungswege und unter Ausschluß des ordentlichen Rechtsweges als staatlich unzuverlässig eingestuft und von gewissen Rechten ausgeschlossen werden, was u. a. ein Verstoß gegen die von der Verfassung geforderte Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Staatsgebietes war (Sander 1936, S. 102 f.). Auf dieses und andere Gesetze  reagierte die politische Polemik mit der Wortschöpfung Kabinettsjustiz. Bezeichnend für den Stellenwert der CSR-Justiz war, daß die Richterstellen des Verfassungsgerichts seit 1931 vakant waren (Sander 1936, S. 176).

Selbstverwaltung: Auf Gemeindeebene wurde die Selbstverwaltung im Laufe der Zeit mehr und mehr beschnitten. Genannt seien nur die Verstaatlichung der Gemeindepolizei, des Schulwesens sowie die Kontrolle über die Gemeindebibliotheken, wobei den Gemeinden aber jeweils die Kosten blieben. In den Finanzkommissionen der Gemeinden wurde die Hälfte der Mitglieder nicht gewählt, sondern “von oben” ernannt, in den Bezirks- und Landesparlamenten jeweils ein Drittel. Demokratisch gewählte Bürgermeister mußten erst von der Regierung autorisiert werden. Auf höherer Selbstverwaltungsebene wurde die Gaueinteilung so gewählt, daß von den 14 sudetenländischen Gauen nur zwei (Karlsbad und Böhmisch-Leipa) rein deutsch blieben. In der Legislaturperiode 1925-1929 wurden aber auch diese in größere, gemischtnationale Verwaltungseinheiten mit tschechischer Mehrheit überführt. Diese Zerreißung natürlich gewachsener Lebensräume sollte offenbar das in Memoire III gezeichnete Zerrbild der nationalen Verhältnisse nachträglich bestätigen (HASSINGER, S. 176 f. und FRANZEL, S. 78 f.).

Bodenreform: Die Bodenreform wurde von einem mit unglaublicher Machtfülle ausgestatteten Amt durchgefühert, in dem man vergeblich nach einem Deutschen suchte.

Meinungsfreiheit: Zahlreiche Bücher, besonders solche „aus dem Reich“, aber auch der „Schwejk-Roman“ von Jar. Hasek waren verboten. Die Zeitungen unterlagen einer umfassenden Zensur, der viele Artikel zum Opfer fielen. Ausgefallene Artikel wurden nicht ersetzt, so daß die Zahl der Leerstellen im Layout ein Maß für den oppositionellen Geist einer Zeitung war. Hunter Millers deckte 1935 auf, daß das von Benesch 1919 vor der “Kommission für die Neustaaten” gegebene Versprechen, eine “zweite Schweiz” zu errichten, immer noch der Zensur unterlag (“Diary”, Band XIII; sh. auch Friedrich Prinz, S, 96 f.). Empfang von Radiosendungen aus Deutschland war während des Ausnahmezustandes 1938 verboten.

Kritische Stimmen: Das Zentralorgan der tschechischen Sozialdemokraten PRAVO LIDU bezeichnete am 23.12.1919 das tschechische Parlament als Diktatur der tschechischen Parteien (Preradovich, S. 66). ADDISON schrieb bereits 1934 vom tschechischen Polizeistaat (Franke, S. 217). MASARYK scheint nicht ahnungslos gewesen zu sein, als er sagte: Die Demokratie hätten wir, jetzt brauchen wir noch Demokraten (Masaryk, S. 13). Stefan OSUSKY (tschechoslowakischer Botschafter in Paris, + 1973 in Washington) stellte fest, daß Benesch schon vor 1938 elementare Regeln der Demokratie mißachtet habe. Emil FRANZEL (S. 80) hält die CSR für eine Formaldemokratie hinter der sich die nationale Diktatur der Tschechen verbarg. F. SANDER (1936, S. 193) reiht die CSR nach Verabschiedung des Staatsverteidigungsgesetzes in die Gruppe der autoritären Staaten ein. Sir Thomas MOORE sagte 1938 im brit. Unterhaus: Wie ich die Demokratie verstehe und sie Abraham Lincoln verstand, ist sie eine Regierung der Mehrheit eines Volkes im Interesse des ganzen Volkes. Wenn das richtig ist, dann herrschte die Demokratie nicht in der Tschechoslowakei. J. KALVODA (S. 196) berichtet, daß sich Benesch nach Ansicht vieler Zeitzeugen auch im Exil wie ein selbsternannter Diktator verhielt. Die Mitglieder seiner provisorischen Regierung ließ er nicht von den Parteien auswählen, sondern bestimmte sie selbst. Nach Ota HORA ließ Benesch 1941 beschließen, daß ein Mißtrauensvotum gegen ihn und seine Exilminister niemals beantragt werden dürfe.

Henleinpartei: Aus der Wahl vom 19. Mai 1935 ging die SdP (Sudetendeutsche Partei) als stimmstärkste Partei hervor, wurde aber nicht an der Regierung beteiligt. Die tschechischen Agrarier begrüßten sie als weitere rechtsgerichtete Bewegung und waren unter Ministerpräsident Dr. Hodza 1937 zu Zugeständnissen bereit. Das war 1945 Anlaß, diese Partei zu verbieten und 1947 ihren Innenminister, Dr. J. Cerny, wegen Begünstigung der Henleinpartei vor ein Prager Volksgericht zu stellen (Jaksch, S. 17). Dr. Hodza war schon 1944 in den USA verstorben.

Demokratische Praxis in der CSR
1945-1960

Nationale Front: Zur Wahl am 26.5.1946 durften nur die vier Parteien der sog. Nationalen Front antreten: Kommunisten (40,17 %), Nationalsozialisten (23,66 %), Volkspartei (20,23 %) und Sozialdemokraten (15,59 %). Verboten waren die bis 1939 stärksten Parteien, darunter die tschechischen Agrarier und die Gewerbepartei. Ihre führenden Männer wurden 1945 eingekerkert, sowohl wegen ihrer einstigen Ausgleichsbereitschaft mit den Sudetendeutschen, als auch wegen ihrer möglichen Gegnerschaft zum Kommunismus.

Das bis zu dieser Wahl amtierende Parlament war wie die erste Nationalversammlung 1918 nur ernannt und nicht gewählt. Dennoch bestätigte es im Oktober 1945 die Benesch-Dekrete (sogar ohne Debatte).

Volksdemokratie: Ihre Einführung gelang Gottwald 1948 nach dem “Putsch” ohne Schwierigkeiten, weil das Wirtschaftsystem von Benesch schon 1945 in Richtung Planwirtschaft umgestellt worden war.  (Heumos, S. 410-419). Für das Erstarken der antidemokratischen Kräfte hatte auch die großzügige Zuteilung sudetendeutschen Bodens an Landlose gesorgt. Während die KPC 1928 nur 4000 Landwirte unter ihren Mitgliedern zählte, waren es Anfang 1946 bereits 140.000 (sh.: Zemedelske noviny, 92, 20.4.1971). Im Jahre 1950 zählte die KPC nicht weniger als 2 Millionen Mitglieder (Sudetendeutsche Zeitung, 2.5.1980, S. 5).

Urfeinde: Die Deutschen wurden in der Verfassung von 1948 als Urfeinde bezeichnet und in der Verfassung von 1960 (als einzige Minderheit) nicht einmal mehr erwähnt.

 

Quellen:

FRANZEL, Emil, Die Sudetendeutschen, München 1980; (HASSINGER, Hugo, Die Tschechoslowakei, 1925.). HEUMOS, Peter, Der Klabautermann und der lydische Hirte, Bohemia, 39; HORA, Ota, Svedectvi o puci, 1979; JAKSCH, W., Wir heischen Gehör, 1947; KALVODA, Josef, Czechoslovakia`s Role in Soviet Strategie, Washington 1978; KATZER, Franz., Das große Ringen, Tüb.2003; LIPSCHER, Ladislav, Verfassung und politische Verwaltung in der CSR 1918-1939, München 1979; MASARYK, T.G., O democracii (Über Demokratie), hrsg.von Koloman Gjan, Prag 1991; MENZEL, Wolfg., 90 Jahre Kampf um Selbstbestimmung, in: Festschrift zum 22. Sudetendt. Tag 1971 in Nürnberg; PLEYER, Wilh., Europas unbekannte Mitte, München-Stuttgert 1957; PRERADOVICH, Nic. von, Die Tschechoslowakei von 1918 bis 1992); SANDER, Fritz, Verfassungsurkunde und Verfassungszustand der Tschechoslowakischen Republik, Brünn, 1935; derselbe, Das Staatsverteidigungsgesetz und die Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik, Brünn, 1936

                                                                                       ****